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Aspekte Religiösen Fundamentalismus Ursachen Und Hilfen

Aspekte des religiösen Fundamentalismus    

Günther Dichatschek

Inhaltsverzeichnis dieser Seite
Aspekte des religiösen Fundamentalismus   
Vorbemerkungen   
1 Fundamentalismus und Fanatismus als religiöse Phänomene   
1.1 Fundamentalismus   
1.2 Fanatismus   
1.2.1 Formen   
1.2.2 Evangelische Erwachsenenbildung   
1.2.3 Politische Bildung   
1.3 Thesenhafte Zusammenfassung   
2 Religion und Politik in Amerika   
2.1 Beispiel USA   
2.2 Beispiel Lateinamerika   
3 Evangelikalismus in Europa   
4 Hilfestellungen   
4.1 Glaube   
4.2 Kommunikation   
Literaturhinweise   
IT-Autorenhinweise   
Zum Autor   

Vorbemerkungen    

Fundamentalismus macht einen Prozess einer Erneuerung aus dem Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne bewusst und versucht beide Aspekte miteinander zu verbinden.

  • Ideologisch wird Tradition reinterpretiert und neu bestimmt. Mit Hilfe ausgewählter Elemente von Tradition und Moderne kommt es zu einer Synthese, bei der nicht nur Traditionalismus reformiert, sondern auch mitunter radikalisiert, fanatisiert und revolutioniert.
  • Fundamentalismus entsteht aus neuen Gruppierungen und Klassenbildungen in Verbindung mit sozialen Umwälzungensprozessen. Wenn man sich nicht an veränderte gesamtgesellschaftliche Verhältnisse anpassen will, werden Traditionen verteidigt. Dies muss man sich neu aneignen, was zur Selektion von bestimmten Aspekten führt, die man als Bedrohung ansieht.
  • Fundamentalismus enthält für gewöhnlich Gesellschaftskritik, Entwürfe einer idealen Sozialordnung, eine Mobilisierung religiöser Laien und heilsgeschichtliche Deutungen der Gegenwart. Entzeiterwartungen spielen eine Rolle. Gerne nehmen Fundamentalisten Anleihen bei anderen Ideologien, mit denen sie in Konkurrenz stehen(vgl. RIESEBRODT 1990/2001; SIX-RIESEBRODT-HAAS 2004, 19-20).
  • Neue religiöse Ideen, Gruppierungen oder Bewegungen gewinnen in einer pluralistischen Gesellschaft Attraktivität durch das Unbehagen, das Menschen im Alltag empfinden.
Elementare religiöse Sehnsüchte wie nach heiler Gemeinschaft angesichts einer großteils anonymen Gesellschaft, alltäglicher Ohnmachtserfahrungen, gleichgültiger Alltagsrhythmen und einer anderen Sichtweise des Lebens in einer orientierungsloseren Welt fördern einen religiösen Fundamentalismus und neue religiöse Gruppierungen, Ideen und Verbreitungssysteme.

Organisationsformen solcher religiösen Angebote sind offene Szenen und Gruppierungen mit Ausschließlichkeitsanspruch.

Neue religiöse Gemeinschaften gibt es heute innerhalb der großen volkskirchlichen Konfessionen und in Freikirchen.

Im Rahmen einer Politischen Bildung/Erziehung erscheint die Auseinandersetzung mit Phänomenen religiöser Gemeinschaften neben den Kirchen in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft wesentlich zu sein.

1 Fundamentalismus und Fanatismus als religiöse Phänomene    

Im Folgenden werden beide Phänomene näher im Kontext der Religionspädagogik und Politischen Bildung beleuchtet.

1.1 Fundamentalismus    

Setzt man sich mit dem Phänomen des religiösen Fundamentalismus auseinander, stößt man auf nicht wenige Beobachter, die den Fundamentalismus für eine politische Reaktion auf wirtschaftliche und soziale Änderungen in der Gesellschaft halten, wobei religiöse Formen eher zufällig angenommen werden.

  • Religion formt jedoch diese Bewegungen mit sozialer Identität, Solidaritätsbewegungen und politischen Interessensbestimmungen.
  • Religiöse Prägung findet sich in den gesellschaftlichen Milieus, dem Konsum- und Freizeitverhalten und im Verhalten zu anderen sozialen Gruppierungen.
  • Religiöse Prediger nehmen innerhalb des Fundamentalismus eine Führungsrolle ein, wobei sich eine neue religiöse Elite bildet, die ihre Position gegen politische und religiöse Führungen durchsetzt. Rhetorische Begabung, politische Unabhängigkeit, Organisationstalent und ein gewisses Maß an Opferbereitschaft, gepaart mit der geschickten Nutzung von Massenmedien, gehören zu den Kennzeichen dieser Akteure.
Im Gegensatz zu religiös-sozialrevolutionären Bewegungen, die den Geist des Stifters und die ursprüngliche Ordnung beschwören, wird die Deutung von Gesellschaftskrisen hier buchstabengetreu im überlieferten Wort gesehen.

Als Beispiele religiös motivierter sozialrevolutionärer Bewegungen gelten

  • die katholische Befreiungstheologie Lateinamerikas und
  • die protestantische Befreiungstheologie Südafrikas.
In der Soziologie - wie auch in der Umgangssprache - wird religiöser Fundamentalismus für gewöhnlich als eine fanatische Art religiösen Denkens und Handelns bezeichnet. Dieser hat inzwischen eine derart weite Bedeutung erhalten, dass er in der Literatur bereits Bände füllt(vgl. ausführlich dazu SIX-RIESEBRODT-HASS 2004, 13-32).

Im Folgenden soll daher aus Gründen der leichteren Verständlichkeit der Begriff "religiöser Fanatismus" näher untersucht werden.

1.2 Fanatismus    

Die Wirkungen eines religiösen Fanatismus sind zweifach.

  • Zunächst können Lebensängste zu Dogmatismus führen und ein Feindbild schafften und damit Ängste verstärken.
  • Dogmatismus kann aber auch als ein Hort des Glaubens diese Lebensängste eindämmen. Ein geschlossenes Überzeugungssystem hat somit unterschiedliche Effekte, je nach Situation und Persönlichkeit.
1.2.1 Formen    

Im Folgenden sollen Formen des religiösen Fanatismus erläutert werden.

  • Ein wichtiges Merkmal in diesen religiösen Intensivgruppen ist die Exklusivität. Im Extremfall beansprucht die Gruppe die Wahrheit und das Heil. Aus der Sicht etwa der Zeugen Jehovas dienen alle anderen christlichen Kirchen dem Satan. In der bevorstehenden Endzeitschlacht werden alle Menschen außer den Zeugen vernichtet. Nur in dieser Gruppe ist Wahrheit und Rettung zu finden, weshalb man sich konsequenterweise von Ungläubigen fernhält(Reinheit bewahren) und mit ihnen über Glaubensfragen ernsthaft diskutiert(geschlossenes Überzeugungssystem).
  • Religiöser Fanatismus hängt jedoch nicht immer mit Heilsanspruch zusammen. Zwar geht es um Rettung, aber die Gefahr muss nicht unbedingt ewiges Unheil sein. Die Gefahr muss allerdings von konkreten Feinden verkörpert werden. Es bedarf eines Feindbildes für den reliösen Fanatismus, es bedarf ebenso eines Angebotes für eine Rettung(Feindbild vs. idealisiertes Selbstbild).
  • Ein weiteres Merkmal ist der Verlust der Transszendenz. Die Gruppe ist sich ihres göttlichen Auftrages so sicher, dass sie über Heil und Unheil Andersdenkener ohne Ansehen der Person meint entscheiden zu können. Dieser Wille Gottes im eigenen Glaubenssystem und die Realität des Gotteswillen rücken letztlich so zusammen, dass sie nicht mehr unterscheidbar sind. Der nicht verfügbare, verborgene Gott der Bibel geht verloren. In einem unbiblischen Dualismus reicht es nicht aus, was Gott tut, denn das Böse ist in Gottes Schöpfung fast so mächtig wie Gott. Daher hat der Mensch das Böse zu bekämpfen und damit Gottes Werk mit zu übernehmen. "Fanatismus könnte man als den Irrtum bezeichnen, der dazu führt, Gott für Dinge verantwortlich zu machen, die man selbst tun sollte, oder selbst Dinge tun zu wollen, die nur Gott tun kann"(MONTAG 1997, 3).
Im Gegensatz zum religiösen Fanatismus, der sich auf kognitiver Ebene zwischen den drei Polen Idealisierung des Selbst, Dämonisierung des Anderen und Verlust der Transzendenz bewegt, ist der Anfang jedes religiösen Glaubens - nicht nur im Christentum - die Ehrfurcht vor dem Göttlichen, dem Ewigen, dem Absoluten, weil dies menschliches Verstehen und Verfügen übersteigt. Allerdings spiegelt jedes Gottesbild menschliche Wünsche und Ängste wider.

1.2.2 Evangelische Erwachsenenbildung    

Für Evangelische Erwachsenenbildung bietet es sich an, zwischen einem Nahbereich des religiösen Fanatismus und einem Fernbereich anderer religiöser Traditionen zu unterscheiden.

  • Im Allgemeinen geht es thematisch mit diesen Gruppierungen um naheliegende Problembereiche wie die Auslegung der Bibel und um eine Frömmigkeitspraxis.
  • Ein Gespräch dreht sich zumeist um das richtige oder falsche Verständnis von Glaube, Kirche, Autorität, Heil, Sünde und Heiligung.
  • Reformatorische Theologie wird sich an das Tun Gottes anlehnen, denn Schuld und Sühne sind nicht menschliches Werk, sondern ein Werk Gottes am Menschen. "Schon von daher verbietet es sich, anderen Christen moralische Forderungen um die Ohren zu schlagen oder gar einen 'stärkeren Glauben' anderen Christen gegenüber als überlegene Leistung ins Feld zu führen"(HEMMINGER 2004, 19).
Christlicher Fanatismus weiß sich nicht von Gott auf einen Weg des Vertrauens gerufen, er bahnt sich den Weg selbst. Demgegenüber geschieht das zentrale Geschehen christlichen Glaubens - Kreuzigung und Auferstehung Christi - außerhalb von uns.


Klaus Berger, Universität Heidelberg, in: "DIE ZEIT" vom 16. April 2003 zur Frömmigkeit des US-Präsidenten George W. Bush und seiner neo-konservativen Anhängerschaft

"[...]liegt bei den genannten amerikanischen Gruppen - wie in den Kreuzzügen und in Teilen der englischen Reformation - bereits eine Säkularisierung der christlichen Vorstellungen vom Gericht vor. Denn wer nicht auf Gott warten kann, muss selbst die Geschichte in die Hand nehmen und wird selbst ernannter Gerichtsvollzieher. Wo Gott nicht 'der Herr' ist, nehmen seine angeblich Auserwählten die Rolle des Richters wahr. Die religiösen Denkschemata werden von der Wirklichkeit Gottes gelöst und von den Geboten der Humanität abgekoppelt, die im Alten und Neuen Testament unterschiedslos der spezifische Ausdruck des Willen Gottes sind. Dagegen geht es den Auserwählten gerade nicht darum, den geforderten Willen Gottes zu tun...."


Theologische Argumente allein begegnen nicht christlichem Fanatismus.

  • Christliche Seelsorge hat von der Einsicht auszugehen, dass der Fanatismus für die Einzelperson und für die Gruppe ein psychologisches Werkzeug ist, mit äußerer Wirklichkeit und persönlichen Konflikten so umzugehen, dass Ängste abgewehrt und Zweifel verhindert werden.
  • Der psychologische Vorteil einer fanatischen Gruppe/Gemeinschaft ist ihr geschlossenes Überzeugungssystem und ihr Rigorismus.
1.2.3 Politische Bildung    

Für Politische Bildung/Erziehung im Kontext mit Interkultureller Kompetenz im Rahmen der Erziehungswissenschaften und Religionspädagogik gilt gleichermaßen:

  • Eine Gesellschaft mit offenem Überzeugungs- und Meinungssystem in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft hat mit Menschen sich zu arrangieren(Konsensfähigkeit).
  • Toleranz ist demnach unabdingbar, Freiheit und Gleichberechtigung in den verschiedensten Formen ist damit verbunden.
  • Fanatismus erzeugt dagegen einen hohen Konformitätsdruck und verhindert persönliche Entwicklung.
  • Positive menschliche Interaktionen leben von einer Balance zwischen Freiheit und Veränderung, Bindung und Bestätigung. Dies geht im religiösen Fanatismus verloren(vgl. DICHATSCHEK 2003, 227-231).
Man kann auch religiösen Fanatismus als eine schwache, verformte oder von Angst beeinflusste religiöse Identität ansehen.

  • Wenn man Identität als Finden von Anerkennung definiert, lässt sich die Kraft hinter dem Fanatismus als eine übersteigerte Angst vor einer Entwertung des eigenen Glaubens und damit seiner Identität erfassen.
  • Allerdings sollte man auch nicht Identität so verstehen, dass immer größere persönliche Autonomie eingefordert wird.
1.3 Thesenhafte Zusammenfassung    

Fundamentalismus bzw. Fanatismus bezeichnen eine radikale Form religiösen Denkens und Verhaltens bei Einzelpersonen und Gruppen.

Zur Abwehr von Ängsten sichert man die absolute Gültigkeit von religiösen Ideen und Verhaltensformen bzw. einer Moral. Unterschiedliche Gründe für Ängste ergeben typische Denk- und Verhaltensweisen mit typischen Strukturen in solchen religiösen Gruppierungen.

Religiöser Fundamentalismus bzw. Fanatismus sind Gefahren für jede Person und Gruppe, die einer religiösen Wahrheit verpflichtet sind.

Nicht betroffen sind religiös indifferente Menschen.

Konflikte begründen sich oftmals als Folge eines Fanatismus. In der Regel verbirgt sich hinter einem Fanatismus eine schwache religiöse Identität.

2 Religion und Politik in Amerika    

Im Folgenden wird auf Entwicklungen in den USA und Lateinamerika eingegangen.

2.1 Beispiel USA    

Die religiösen Einflüsse auf die US-Politik sind so vielgestaltig wie die religiöse Landschaft des riesigen Landes. Es versteht sich von selbst, dass die Einordnung der USA als "christliche Nation" nur eine Minderheitsmeinung darstellt, wohingegen der Gebrauch religiöser Bezüge und Symbole in der Öffentlichkeit weithin akzeptiert wird. Der Präsidentenwahlkampf zwischen George Bush jun. und Al Gore aktualisierte solche Überlegungen im besonderen Maß.

Das "Impeachment-Verfahren" gegen Präsident Bill Clinton und die persönlichen Konsequenzen führender republikanischer Gegner bestärkten Europäer in ihrem Eindruck, dass politische Abläufe in den USA oft bizzar durch moralische Tauglichkeiten ihrer Vertreter gekennzeichnet sind, eine Trennung zwischen Person, Amt und politischem Programm nicht vorhanden und eine besondere moralische Form von Christentum ausgeprägt ist. Dagegen steht die Erkenntnis, dass vielmehr "Skandale" - auf Bundesebene - in den USA sehr rationale Vorgänge darstellen, geht es doch um Machtausgleich zwischen dem Weißen Haus und dem Kongress, wie es sich zwischen Präsident und Parlamentsmehrheit in den USA immer wieder zeigt. Solche blockierenden Situationen, meist ohne pragmatische Differenzen - man sehe sich die Machtverhältnisse bei Nixon, Ford, Reagan und jetzt bei Bush an - sind der ideale Nährboden für persönliche Attacken, die eine entsprechende Medienlandschaft begierig annimmt. So erhofft man sich bei nachfolgenden Wahlen positive Effekte. Obwohl echte Missstände aufgezeigt werden, ist es doch eher ein Ausdruck einer institutionellen Blockade als eines religiös-moralischen Meinungsdrucks auf das politische System.

Die Neigung der US-Politik, besondere Formen der Religiosität zu praktizieren, entspricht einer Selbstdarstellung der Nation, wie etwa der Eröffnung jedes Sitzungstages des Kongresses mit einer Andacht und der Proklamation "In God We Trust" auf der Rückseite der Eindollar-Note. Die USA fühlen sich in ihrer Staatsgründung keineswegs weltanschaulich neutral, sondern eher als "christliche Nation" - genau genommen eine protestantisch-christliche Nation, da der Katholizismus mit seiner innerweltlichen Quasi-Staatlichkeit natürlich abseits stand. In der US-Verfassungsgeschichte dagegen findet diese Deutung keine Unterstützung und wird auch nicht durch die oberste Gerichtsbarkeit(Supreme Court)akzeptiert.

Bedeutende Teile der nordamerikanischen Christenheit lehnen eine Verbindung von Staatsgewalt und Religion ab, andere Teile befürchten eine Randstellung von Religionen. Erst im 20. Jahrhundert entdeckte die akademisch gebildete US-Öffentlichkeit eine jüdisch-christliche Tradition, wobei hierbei die jüdische Integration als Folge des Zweiten Weltkriegs hilfreich war. Diese Zusammenziehung zweier Weltreligionen machte eine religiöse Selbstbeschreibung diffuser, wodurch auch eine Religiosität der USA unverbindlicher wurde. Als Folge erkennt man eine häufig öffentliche Rhetorik, mit der Europäer wenig anfangen können.

Die jüdisch-christliche Konstruktion entspricht einem Einstellungswandel in der vorherrschenden US-Politik. Die heutige politische Klasse der USA ist bei weitem nicht mehr so von politischen Richtungen und Elitepositionen geprägt und dominiert, die einstmals politische Macht unter sich verteilte(Episkopale, Presbyterianer, Methodisten und Lutheraner). Unter den Nachkriegspräsidenten waren dann auch ein Katholik(Kennedy), Baptist(Carter) und ein Quäker(Nixon), alle Vertreter von Glaubensrichtungen, die zuvor geringe Repräsentanz in politischen Spitzenpositionen erfuhren.

Diese Ausweitung des religiösen Spektrums hat einer Integration von Juden in den politischen Eliten genützt. Wichtig ist, dass in "irgendeiner Weise" ein Kandidat an den Gott beider Testamente glaubt, so wie es Dwight Eisenhower einmal ausdrückte, als er meinte, alle Amerikaner sollten ihren Glauben praktizieren. Wie weit dann eine jüdisch-christliche Glaubensvorstellung gehen kann, konnte man 1967 beim "Sechstagekrieg" sehen. Nicht nur die Bedrohung des Staates Israel, trotz eines eher säkularen US-Judentums, erweckte eine Identifikationswelle gegen eine feindlich wahrgenommene Außenwelt, auch die Abgrenzung gegen eine "kommunistisch" oder "islamisch" beschriebene Welt - man denke an den "arabischen Sozialismus" - erzeugte einen politischen Konsens auf allen Ebenen. Der gemeinsame Nenner war - man vergleiche das republikanische Parteiprogramm - die Betonung militärischer Stärke. Was sich unter Reagan und Bush sehr deutlich zeigte, wird heute als Selbstbewusstsein der Nation gewertet, die sich durch religöse Werte geprägt sieht und sich als Ausnahmeerscheinung unter den hochentwickelten, zunehmend säkularisierten Industriestaaten versteht.

Der religiöse Konsens spielt in der innenpolitischen Szene keine erkennbare Rolle, denn damit wären Ausgrenzungen religiöser Gruppierungen die Folge. Viel wichtiger sind hier Akzentuierungen, die innerhalb der Konsensbreite auftreten. Selbst der Streit um den Schwangerschaftsabbruch zeigt, dass die Fronten nicht deckungsgleich mit den Grenzen religiöser Lager verliefen.

Dem Europäer fällt die Verbannung organisierter Religion und eine gleichzeitige Überwucherung des politischen Alltags mit religiösen Bezügen auf. Das zweite folgt aus dem ersten, weil durch den Verfassungskonsens Rechtsmittel gegen eine Besetzung der Politik durch eine bestimmte Religiosität bzw. Konfession eingesetzt sind. Damit wird auch eine allgemeine religiöse Symbolik - "jüdisch- christlich" - akzeptabel und eine gewisse Gläubigkeit als Grundvoraussetzung erfolgreicher politischer Präsentation ergibt sich in der Öffentlichkeit.

Religiosität in den USA ermöglicht eine Kultur der persönlichen Freiheit in Abgrenzung gegen staatliche Institutionen und Freiheit in der Entfaltung durch Teilnahme an religiösen Veranstaltungen. US-Kirchen sehen sich daher als Form der Einübung positiver Bürgerrollen im Sinne eines Praktizierens eines unter Gleichgesinnten verankerten Normensystems und einer Verantwortlichkeit auf Wechselseitigkeit, die in den USA besonders stark ausgeprägt ist.

Nordamerikanische Religionsgemeinschaften mit dem Kennzeichen evangelikaler Gläubigkeit boten Menschen, die häufig europäischen hierarchischen Staatskirchen entflohen, eine einer mobilen und offenen Gesellschaft gemäße unkomplizierte Gläubigkeit.

Eine konsensfähige Charakterisierung der "Evangelikalen" grenzt diese durch vier Kennzeichen ab:

  • Fixierung auf die Kernfamilie,
  • Prägung durch "born again"/Konversionserfahrung,
  • Akzeptanz einer vollen Autorität der Bibel über Glaubensgrundsätze und Lebensgestaltung sowie
  • Verbreiten des Glaubens durch öffentliches Zeugnis im eigenen Leben.
Fundamentalisten sind eine Teilgruppe daraus, die sich durch buchstabengetreues Umsetzen im Gegensatz zu Erkenntnissen moderner Wissenschaften bzw. der kritischen Theologie hervortut.

Differenzierungen in der Vielfalt amerikanischer Kirchen und den Evangelikalismus beschreiben ausführlich SCHULTZ-WEST-MACLEAN(1999) und ELWERT-RADERMACHER-SCHLAMELCHER (2018, 109-128).

2.2 Beispiel Lateinamerika    

Evangelika und fundamentalistische Protestanten bilden heute die zweitgrößte religiöse Gruppe in Lateinamerika. Damit sind sie eine zentrale Größe und zugleich Konkurrenz des religiösen Monopolisten, der Katholischen Kirche, geworden. Vorgenommen wird eine Unterteilung in einen liberalen und evangelikalen Protestantismus(vgl. KÖHRSEN 2018, 129-140).

  • Der Evangelikalismus unterscheidet sich durch einen Missionsschwerpunkt, restriktive Moralvorstellungen und die Betonung von Konversion als Neuanfang.
  • Unterschieden wird auch zwischen nicht-charismatischen und charismatischen(pfingstlichen) Strömungen.
Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert breitet sich die Pfingstbewegung als evangelikale Strömung aus.

  • In der Folge kommt es ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem starken Mitgliederzuwachs.
  • Die Studie des "Pew Research Centers" 2014 registriert fast jeden fünften Lateinamerikaner heute als Protestanten(vgl. http://www.pewresearch.org > Religion in Latin America[17.5.2018]). Allerdings gibt es starke Schwankungen, so etwa 41 Prozent in der Bevölkerung in Honduras und Guatemala, nur sieben Prozent in Paraguay und neun Prozent in Mexiko.
Pfingstbewegungen kennzeichnen sich durch

  • den Glauben an das Wirken des Heiligen Geistes(Sprechen in fremden Sprachen, Heilung von Krankheiten, Geisteraustreibung und Prophetie).
  • Gottesdienste sind für ihre Ausgelassenheit, Feierlichkeit und Emotionalität bekannt(vgl. SCHÄFER 2009, 553-608).
Erklärungen für die Verbreitung ergeben sich aus der Deprivationstheorie und dem Marktansatz.

  • Nach der Deprivationstheorie zieht die Pfingstbewegung die armutsbezogene Bevölkerung mit ihren Problembereichen besonders an. Angeboten werden Hoffnung, Hilfestellungen und ein moralischer Leitfaden für ein besseres Leben.
  • Marktansätze betonen die Ausblendung der religiösen Fragen der Unterschichten und damit die Betonung auf das breite Angebot der religiösen Produkte, also die Betonung und der Schwerpunkt einer Verbesserung des Diesseits und einer Rekombination religiöser Elemente.
  • Nicht zu übersehen sind Tendenzen eines sozialen Aufstieges von Pfingstlern in der zweiten und dritten Generation(vgl. KÖHRSEN 2018, 136).
3 Evangelikalismus in Europa    

In Europa ist ein ständiger Wandel zu verzeichnen. Unterschiedliche Prozesse ergeben sich aus der Globalisierung(vgl. ELWERT-RADERMACHER 2018, 184-185).

  • Einerseits begünstigt der transnationale Austausch Evangelikalisierung. Es kommt zu US-amerikanischen Einflüssen und Formen neuer sozialaktivistischer Bewegungen(vgl. ZIEGERT 2015).
  • Andererseits spielt die transnationale Migration eine Rolle. In katholisch(Spanien, Portugal) und orthodox(Ukraine) geprägten Länder etablieren sich zunehmend protestantische Gemeinschaften. Der Evangelikalismus ist dort eine dominante Form des Protestantismus.
  • In Ländern mit eigener evangelischer Tradition ändert sich die religiöse Landschaft durch Zuwanderung(vgl. der Zuzug evangelikal geprägter Russlanddeutscher in Deutschland, der auch eine Pluralisierung evangelikaler Gemeinschaften auslöste).
  • Amts- und Volkskirchen sind von den Impulsen betroffen(vgl. für Deutschland ZIEGERT 2015).
  • Das Verhältnis von autochthonen und Migrationsgemeinden ist nicht immer spannungsfrei.
  • Ein Sonderfall stellen die pentekostalen Roma als transnationale Minderheiten dar. Der charismatische Evangelikalismus ist die dominierende Form von Religiosität unter Roma(vgl. Frankreich, Spanien, Portugal und Rumänien; ELWERT-RADERMACHER 2018, 184).
  • Evangelikale Netzwerke spielen in den Neuen Medien eine zunehmende Rolle(vgl. http://www.europeanea.org; http://jesus.ch; http://pef.eu [18.5.2018]; vgl. GUSKE 2014, 86).
Europäischer Evangelikalismus ist ein vielfältiges und global vernetztes Phänomen, kaum unterscheidbar in Freikirchen und protestantischen Gemeinschaften.

4 Hilfestellungen    

Im Folgenden werden zwei praktische Hilfen gegeben, die sich aus theologischen Argumenten und einem Kommunikationsgeschick ergeben.

4.1 Glaube    

In der biblischen Tradition ist der Glaube die Beziehung zwischen Mensch und Gott(vgl. das Doppelgebot der Liebe, Lk 2). Dieses Beziehungsgeschehen wird häufig mit Bildern beschrieben. Das Wachstum der Gottesbeziehung braucht Zeit, Gott hat die Geduld eines guten Gärtners mit den Menschen. Der Glaube darf unfertig sein, wichtig ist seine Lebendigkeit, denn dann kann er wachsen. Mit dem Samen(des Glaubens) werden die Menschen der Acker, den Gott bebaut. Glaube ist also eine Gabe Gottes, nicht menschliches Werk. Das Gegenteil wäre Misstrauen und Angst, Mangel an Vertrauen zu dem, was Gott für die Menschen tut. Das einzige Maß des Glaubens in der Sprache der Bibel ist die Frucht, die schließlich der Glaube bringt, wenn Gott die Ernte einfährt.

Pointiert ausgedrückt könnte man sagen, dass die biblische Sprache einem fanatischen Glauben widerspricht. Es kommt nicht auf die Fülle eines Glaubenswissens an, nicht auf die Qualität der Argumente, auch nicht auf die Logik des Ideensystems, den Lebensstil oder die Höhe der Moral. "Wie die Kritik Jesu an den Pharisäern zeigt, kann ein untadeliges Leben etwas höchst Tadelnswertes werden. Sämtliche Maßnahmen, mit denen die Fanatiker unzerschiedlichen Typs versuchen, ihren Glauben abzusichern, sind für die Gottesbeziehung zweitrangig oder völlig nutzlos. Die auf Vertrauen ruhende Gewissheit des glaubenden Menschen, sein personal-ganzheitliches Verhältnis zu Gott(certitudo), entartet durch die Sicherungsbemühungen zu einer scheinbaren Sicherheit(securitas), die man nun zu besitzen scheint"(HEMMINGER 2004, 26; vgl. EVANGELISCHER ERWACHSENENKATECHISMUS 2001, 690-695).

Kritische Fragen an einen christlichen Fanatismus

  • Wächst Liebe, Frieden und Hoffnung auF Angst und Streit?
  • Wird das Evangelium für die anderen attraktiver oder wird es schwieriger und abstoßender?
  • Wie wirkt Lehre und Handeln auf unsichere Christen? Bringt das Evangelium Trost und Ermutigung oder Angst und Zwang?
  • Geht es um das Vertrauen auf Gott oder wird Vertrauen auf den Menschen und seine Ansichten/Lehre/Meinungen verlagert?
  • Geht es schließlich im Gespräch mit den anderen um das Verbindende und Gute in deren Denken und Tun oder geht es um das Trennnende und Schlechte?
4.2 Kommunikation    

Ohne Zweifel wirkt eine andere Sichtweise für Fanatiker bedrohlich und erzeugt Spannungen.

  • Glaubensfragen werden gerne als Dogmen widergegeben.
  • Kommunikation erscheint daher zumeist nur in einer entkrampften Atmosphäre möglich zu sein.
Unverbindliche Ratschläge zu einer Gesprächsführung ergeben sich

  • als biographischer Bericht des Gesprächspartners.
    • Wie kam man zu diesem Zugang zum Glauben und zur Gruppe?
    • Was waren die ursprünglichen Probleme und Ziele?
  • als Perspektivenwechsel: Wie fühlen sich Eltern, Kollegen und Ehepartner auf andere?
Literaturhinweise    

Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/oder direkt zitiert werden.


Dichatschek G.(2000): Eine Kultur der persönlichen Freiheit. Religion und Politik in den USA, in: SAAT Nr. 22, 26. November 2000, 8-9

Dichatschek G.(2003): Schule und Religion. Zum Verhältnis Erziehungswissenschaft und Religionspädagogik, in: SCHULFACH RELIGION(Hrsg. Arbeitsgemeinschaft der Ev. Religionslehrer/innen an AHS in Österreich-Institut für Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien), Jg. 22/2003, Nr. 1-2, 227-231

Drehsen V.(1993): Alles andere als Null-Bock auf Religion - Religiöse Einstellung Jugendlicher zwischen Wahlzwang und Fundamentalismusneigung, in: Biel P.-Bitzer Ch.-Degen R.-Mette N.-Rickers F.(Hrsg.)(1993): Jahrbuch der Religionspädagogik, Bd. 10/1993, 47-69

Elwert Fr.-Radermacher M.(2018): Evangelikalismus in Europa, in: Elwert Fr.-Radermacher M.-Schlamelcher J.(Hrsg.): Handbuch Evangelikalismus - Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10174, Bonn, 173-188

Elwert Fr.-Radermacher M.-Schlamelcher J.(Hrsg.)(2018): Handbuch Evangelikalismus - Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10174, Bonn

Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Sogenannte Sekten und Psychogruppen"(Hrsg.)(1998): Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen. Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission, Hamm

Guske K.(2014): Zwischen Bibel und Grundgesetz. Die Religionspolitik der Evangelikalen in Deutschland, Wiesbaden

Hemminger H.(2004): Religiöser Fanatismus, EZW-Texte 178/2004, Berlin

Hole G.(1995): Fanatismus, Freiburg i. Br.

Köhrsen J.(2018): Evangelikalismus in Lateinamerika, in: Elwert Fr.-RadermacherM?.-Schlamelcher J.(Hrsg.): Handbuch Evangelikalismus - Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10174, Bonn, 129-140

Lehrmann H.(Hrsg.(2016): Transatlantische Religionsgeschichte. 18. bis 20. Jahrhundert, Göttingen

Montag G.(1997): Persönlichkeitsstörungen und religiöser Fanatismus, Idea Dokumentation 8/1997

Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft(1999/4): Schwerpunktthema "Politische Strömungen in den USA", Baden-Baden

Riesebrodt M.(1990): Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten(1910-1928)und iranische Schiiten(1961-1979) im Vergleich, Tübingen

Riesebrodt M.(2001): Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der 'Kampf der Kulturen', München

Schäfer H.(200)): Pfingstbewegung: Sozialer Wandel und religiöser Habitus, in: Bertelsmann Stiftung(Hrsg.): Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh, 553-608

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Vereinigte-Lutherische Kirchen Deutschlands(VELKD)(2001): Evangelischer Erwachsenenkatechismus: glauben-erkennen-leben, Gütersloh

Vereinigte-Lutherische Kirchen Deutschlands(VELKD)(2000): Handbuch Religiöse Gemeinschaften, Gütersloh

Ziegert K.R.(2015): Die Verkäufer des perfect life. Über die Amerikanisierung der Religion und den Untergang der EKD-Kirchenwelt in Deutschland, Münster

Zimmerling P.(2002): Die charismatischen Bewegungen. Theologie-Spiritualität-Anstöße zum Gespräch, Göttingen

IT-Autorenhinweise    

Die IT-Autorenbeiträge dienen der Ergänzung zum Beitrag.


Netzwerk gegen Gewalt

http://www.netzwerkgegengewalt.org - Index:

Theorie und Praxis evangelischer Erwachsenenbildung, Teil 1 und 2

Politische Bildung

Interkulturelle Kompetenz

Erwachsenenbildung

Religionspädagogik, Teil 1 und 2

Protestantismus


Der Beitrag wird laufend aktualisiert.


Zum Autor    

Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft/ Universität Wien/Aus- und Weiterbildung/Vorberufliche Bildung (1990/1991-2010/2011), am Fachbereich Geschichte/Lehramt/Didaktik der Politischen Bildung (ab 2015/2016, 2017/2018)

Mitglied der Bildungskommission der Evangelischen Kirche Österreich A. und H.B. (2000-2011), stv. Leiter des Evangelischen Bildungswerks in Tirol (2004-2009, 2017-2019), Kursleiter' an den VHSn des Landes Salzburg Zell/See, Saalfelden und Stadt Salzburg (2012-2019)

Gründungsmitglied der Lehrer_innenplattform für Politische Bildung und Menschenrechtsbildung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur/bm:bwk (2004)

Absolvent des Instituts für Erziehungswissenschaft/ Universität Innsbruck/Doktorat? (1985), des 7. Universitätslehrganges "Politische Bildung"/Universität Salzburg bzw. Klagenfurt/Krems-Masterlehrgang (2008), der Weiterbildungsakademie Österreich/Diplome(2010), des 6. Universitätslehrganges "Interkulturelle Kompetenz"/ Universität Salzburg-Diplom (2012), des 4. Internen Lehrganges für Hochschuldidaktik/ Universität Salzburg/Zertifizierung (2016), des Online-Kurses "Digitale Werkzeuge für Erwachsenenbildner_innen/ TU Graz-CONEDU-Werde Digital at.-Bundesministerium für Bildung (2017), des Fernstudiums Erwachsenenbildung/ Evangelische Arbeitsstelle Fernstudium - Comenius Institut Münster/Zertifizierung (2018)


MAIL dichatschek (AT) kitz.net

 
© die jeweiligen Autoren zuletzt geändert am 24. September 2022